Das fragt sich zu seiner Familiengeschichte heute manchmal mein 91-jähriger Vater, wenn er an seine Mutter denkt. Ich sage ihm, dass er damals einfach zu jung war. Als junger Mensch interessiert man sich naturgemäß weniger für seine Wurzeln. Man will rauswachsen, erwachsen werden, ein eigenes Leben aufbauen.
Seit etlichen Jahren schon interessiert mich meine Familienhistorie. Ich höre anders zu, wenn mir meine Eltern oder andere Verwandte etwas erzählen. Ich achte auf Details: wie alt war meine Mutter, meine Großmutter, als sie dieses und jenes erlebte? Ich stelle andere Fragen an meine Vorfahren. Als schließlich vor wenigen Wochen bei meinem Vater eine Kiste mit uralten Fotos aufgetaucht ist, dazu Briefe von mir, die ich meinen Eltern als junge Frau schrieb, gerade um das Wendejahr 1989 herum und als Kind, als ich gerade schreiben lernte, hat mein Interesse und meine Suche nach den Wurzeln neues Futter bekommen. Ich hatte Fotos von meinen Urgroßvätern vor mir, ein Foto vom Vater meines Vaters, bei dem der eine dem anderen wie aus dem Gesicht geschnitten erscheint, eine fröhliche Gesellschaft an der Kaffeetafel brachte mir gesellig-fröhliches Leben aus längst vergangener Zeit nahe. Ich fühle Leichtigkeit und Lebensfreude in mir beim Betrachten, die mir aus diesen Zusammenhängen neu ist.
Was hat das Leben meiner Vorfahren nun mit meinem Leben zu tun? Was kann ich daraus für mich lernen? Ich selbst bin die Tochter eines bodenständigen Elternteils mit starkem Bezug zur Heimat, zu Wald und Holz und einem Elternteil, das unternehmerisch geprägt wurde, kaufmännisch, mit Hang zum urbanen Leben, zu einer weltläufigeren Haltung. Beide haben mir ein Interesse an Kultur, Büchern, Theater mitgegeben. Und somit erklärt sich vielleicht auch mein Start als Kauffrau und Betriebswirtin, die für die Diplomarbeit auf Äckern aufgelassener Militärgelände in Erlangen herumgestiegen ist und sich die Neophyten hat erklären lassen. Ich hatte mit dem Bund Naturschutz e.V. über die Bedeutung von Stadtbrachen bzw. die entsprechende Öffentlichkeitsarbeit dazu geschrieben. Und überhaupt den Umweltschwerpunkt im Studium gewählt. Das war nicht unbedingt das Übliche bei einem BWL-Studium. Weil ich ihn wichtig fand und andere Menschen vorzufinden waren, die meinen Werten mehr entsprachen. Erst heute verstehe ich diese Dynamik richtig.
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Aufgabe:
Formuliere in einem Satz, was dich mütterlicherseits und was väterlicherseits geprägt hat! Es kann gut sein, dass du darüber erst einmal nachdenken und dann zusammenfassen musst. Einen solchen Satz zu formulieren, kann sehr hilfreich sein, um das eigene Leben besser zu verstehen.
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Ein anderes Beispiel habe ich als Seniorenbegleiterin vor Augen. Ich betreute einmal eine alte Dame, für die das Putzen der Wohnung enorm wichtig war. Sie war stolz darauf, dass ihre Balkonbrüstung auch nach 30 Jahren noch blitzte wie am ersten Tag, hatte genaue Vorstellungen darüber, wie und wann die Fenster geputzt und mit welchem Mittel Flecken im Teppich (Mineralwasser zum Beispiel) beseitigt werden. Das perfekte Sauberhalten der Wohnung war für sie ein großer Bestandteil im Leben. Diese Bedeutung wollte ihr Mann früher nicht mehr mittragen. Er trennte sich von ihr auch deshalb, wie sie mir erzählte. Da es mir wichtig ist, mit den alten Menschen wertschätzende Gespräche zu führen, in denen wir über deren Leben sprechen und die Juwelen dieser Biografie herausarbeiten, kam heraus, dass sie als junges Mädchen gerne Hauswirtschafterin geworden wäre. Eine gute Familie war bereits gefunden. Doch dann kam der Krieg. Sogar das gute Familiengeschirr hatte meine alte Dame einstmals im Garten verbuddelt, um es nach Jahren wieder ausgraben und nutzen zu können. Doch das war nach Kriegsende längst verschwunden. Aus ihrer östlichen Heimat musste sie fliehen. Sie hatte alles verloren: Heimat, das Geschirr und andere Gegenstände und ihre Wunschausbildung. Ihr Leben lang hat sie für andere geputzt und ihren Sohn allein großgezogen. Wer wollte es ihr da verdenken, dass sie ihren kleinen Hausstand so ordentlich wie möglich halten wollte? Das hatte einen tieferen Sinn für sie, der sich aus ihrer Biografie heraus erklären ließ.
Deine Familiengeschichte zu kennen hilft gegen Einsamkeit, für mehr Getragensein und Sinn in deinem Leben
Wie ich von Berufskollegin Dr. Cornelia Odenthal gelernt habe, hat eine Studie in den USA bestätigt, dass Menschen mit Widrigkeiten besser umgehen können, wenn sie ihre Vergangenheit kennen. Ich glaube, auch deshalb sind den meisten Menschen alte Fotos oder generell Familienfotos an den Wänden wichtig. Es geht um eine Anbindung, Bindung generell. Vor allem in unserer schnellebigen Zeit und einem längerem Leben mit mehr Brüchen und Wechseln tut es gut, eine Konstante in sich zu beleben, die wie ein Rückgrat stärkt. Durch diese Beschäftigung mit Familiengeschichte und der inneren (neuen?) Anbindung kann man auch Einsamkeitsgefühlen entgegenwirken. Man fühlt sich verbundener mit der eigenen Geschichte und anderen Menschen generell, fühlt sich getragener, mehr aufgehoben. Das eigene Leben erscheint in einem größeren Sinn-Zusammenhang.
Als Conny Odenthal vor einer Woche in ihrem neuen Programm dazu einlud, vorhandene Familienfotos mit Struktur zu ordnen und Familiengeschichten zu bewahren, habe ich deshalb sofort mitgemacht. Denn ich möchte meinen Vater noch befragen können, seine Sicht der Dinge, sein Wissen nutzen. Meine Mama lebt leider nicht mehr. Nutze auch du noch lebende Familienmitglieder, befrage sie. Somit entsteht auch (noch mehr) Gespräch und neue Verbundenheit. Vor einem Jahr habe ich eine Familienbiografie lektoriert, es war eine wunderbare Arbeit, ich habe sie genossen und viel dabei gelernt. Der Auftraggeber erlebte seine Beschäftigung mit der Hauptperson und seinen Vorfahren als ungeheuer beglückend, er lernte neue Dinge kennen über die Familie, die Zeitgeschichte. Das Großartige ist, dass man dabei in zwei Zeitachsen hinein wirkt: man hebt einerseits den Schatz der Vergangenheit, gräbt so manches fast Verlorene aus und bewahrt einiges vor dem Vergessen. Und andererseits holt man es in die Gegenwart und kann seine Zukunft darauf aufbauen. Die wesentlichen, das Leben der eigenen Eltern und Großeltern prägenden Erfahrungen kann hilfreich sein dafür, die eigenen mitgegebenen Prägungen zu verstehen, die in einem sind. Es hat auch etwas zu tun mit dem „Aufräumen im eigenen Leben“ (https://www.sueddeutsche.de/leben/familie-biografisches-schreiben-die-geschichte-des-eigenen-lebens-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-210311-99-778054).
Die Frage nach unserer (Familien-)geschichte gibt uns zudem wertvolle Identität. Da sind meistens mehrere Dinge in uns, die zu uns gehören, in uns schlummern. Wie auch Svenja Hofert auf ihrem sehr empfehlenswerten, weil fundierten, Karriereblog schreibt, erklärt unsere eigene Historie auch manche scheinbar irrationale (Berufs-) Entscheidung. (https://www.svenja-hofert.de/mindset/warum-die-familiengeschichte-entscheidende-hinweise-auf-unsere-staerken-und-lebensrollen-gibt/) Wie auch Svenja Hofert auf ein Buch und Thema in ihrem Artikel hinweist, nachdem nicht nur der (berufliche) Weg nach oben Sinn ergibt, sondern jemand auch eine ganz andere berufliche Richtung einschlägt oder sich „nach unten“ orientiert. Da gibt es zum Beispiel den Arzt, der sich nach vielen Jahren dafür entscheidet, LKW-Fahrer zu werden, weil das sein Traum ist. Oder die Lehrerin, die sich in mittleren Jahren dazu entschließt, ein Café zu eröffnen. Sowohl in meiner Familie als auch meiner eigenen Biografie gab und gibt es sowohl geisteswissenschaftliche Anteile mit einer Arbeit am Schreibtisch, Umgang mit komplexen Texten und Themen und zugleich eine praktische Seite, die mit Gerätschaften, Schmutz und körperlicher Anstrengung verbunden ist. Letzteres ist eine sinnliche Erfahrung; der Geruch von Eisen, Metall, Erde, Holz. Beides möchte ich nicht missen, beides ist Leben, Vielfalt.
Auch ich selbst habe vor wenigen Jahren, als ich mein Leben neu sortiert habe, eine Tätigkeit in Teilzeit neben meiner Arbeit als Journalistin aufgenommen, die mit einem klassischen Karriereverständnis nicht zu vereinbaren wäre. Als Seniorenbegleiterin besuche ich alte Menschen in ihrem Zuhause, um sie bei alltäglichen Dingen zu unterstützen oder einfach mit ihnen Zeit zu verbringen, sie sich nicht einsam fühlen und bereichernde Stunden erleben dürfen. Ich habe mich bewusst für diese Arbeit entschieden, obwohl die Entlohnung überschaubar ist. Warum habe ich mich dafür entschieden? Weil ich unbedingt mit Menschen arbeiten wollte. Ich habe einen guten Zugang und großes Verständnis für alte Menschen. Vielleicht auch deshalb, weil ich eine große Sehnsucht danach verspürte, da ich nahezu ohne Großeltern aufgewachsen bin. Und weil ich sehr gut zuhören, mich wertschätzend, liebevoll und mit menschlicher Wärme auf Menschen einlasse kann. Dass ich bei dieser Arbeit enorm viel zurückbekomme an Dankbarkeit, Einblick in Familien und Lebensläufe, versteht sich.
Wie kannst du nun beginnen, deiner Familiengeschichte auf die Spur zu kommen?
Aus eigener Erfahrung schlage ich folgende Vorgehensweise vor:
- Schreibe einerseits die wichtigsten Lebensdaten deiner Eltern mit Geschwistern und Großeltern jeweils mit vorhandenen Geschwistern auf (Geburt, Geburtsname, Geburtsort, Sterbedatum und -ort). Dazu die Berufe und Hobbys, Fähigkeiten oder wichtigsten Dinge, die diese Menschen mitgegeben, vermittelt haben.
- Erstelle dazu ein einfaches Genogramm (eine schöne Anleitung dazu ist diese hier https://sanft-heilen.com/wp-content/uploads/2017/02/genogramm-anleitung.pdf), dann hast du schon einmal eine erste Übersicht erstellt
- Gehe als nächstes von sinnlichen Eindrücken und Erinnerungen aus, die dir einfallen, die dir öfter erzählt wurden. Sammle und notiere Anekdoten dazu. Du kannst sie dir auch erzählen lassen und mit einem Diktiergerät aufnehmen (die betreffende Person vorher um Erlaubnis fragen).
- Wenn du dazu noch Fotos, Originale von Familienstammbüchern, Briefen, Bescheinigungen hast, solltest du diese kopieren.
Alles zusammen kannst du in einer Art Lose-Blatt-Sammlung, gerne in einem besonderen, optisch ansprechenden Ordner, an einem Ort zusammenführen. Somit hast du ein erstes Fundament gelegt und kannst es nach Gelegenheit weiter ausbauen und vervollständigen. Wirklich fertig wird man damit sowieso nie. Aber mit dieser Vorgehensweise kombinierst du Fakten und Anekdotisch-Sinnliches und hast mit einem ersten Genogramm auch gleich eine übersichtliche Darstellung.
Mehr darüber, wie du herausfinden kannst, wer du bist, kannst du in diesem Blogbeitrag nachlesen: Wie finde ich heraus, wer ich (eigentlich) bin?
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