Ich habe mir immer erzählt, dass ich unsportlich sei. Ich konnte nie so schnell rennen wie andere, hasste den Schulsport und meine Künste im Fahrradfahren sind bis heute ausbaufähig. Aber ich habe mich immer gerne bewegt, liebe (ausgelassenes!) Tanzen, Wandern, benutze Treppen statt Fahrstühle. Und seit über fünf Jahren betreibe ich einigermaßen regelmäßig Kraftsport im Fitnessstudio und drehe regelmäßig flotte Spazierrunden im Wald. Bin ich nun immer noch unsportlich? Ich glaube, das stimmt nun so nicht mehr. Ich kann mir wohl eine neue Geschichte meines Lebens über mich erzählen. Auch andere Eigenschaften und Verhaltensweisen, die zu meinem jüngeren Ich gehörten, haben sich verändert. Bemerkt habe ich das nicht nur selbst, sondern vor allem habe ich das von anderen gespiegelt bekommen. Im Gegensatz zu früher gelte ich inzwischen als selbstbewusst, konfliktfähig/lösungsorientiert und schlagfertig. Das fühlt sich sehr gut an.
„Wir sind nicht, was wir sind, sondern was wir aus uns machen“
Das hat der britische Soziologe Anthony Giddens bereits 1991 formuliert. Es geht hier um den Begriff der Identität. Also die Frage „Wer bin ich?“ Denn die bisherigen Vorstellungen einer einheitlichen Identität, einer „gefestigten Persönlichkeit“ stimmen nicht mehr. Psychologie und Soziologie definieren Identität heute anders als früher. Nämlich als einen lebenslangen Prozess. Das heißt, du hast nicht diese eine Identität, die in dir als Jugendliche/r entstanden ist, sondern dein Ich ist etwas, was sich ständig verändert und an deine aktuellen Lebensbedingungen anpasst. Du bist also mit 35 nicht mehr die, die du mit 18 oder 22 gewesen bist. Und mit 45 nicht mehr die, die du mit 30 warst. Sicher haben wir wesentliche Charaktereigenschaften, die sich durch unsere Biografie durchziehen. Doch wir sammeln neue Erfahrungen, entwickeln neue Einstellungen und Verhaltensweisen und uns weiter. Das lebenslange Lernen gilt nicht nur für den Beruf, sondern auch für den persönlichen Bereich.
Zwar kursiert noch immer hier und da das kontinuierliche Stufenmodell des deutsch-amerikanischen Psychoanalytikers Erik Erikson und seiner Frau Joan Erikson (Erzieherin und Therapeutin) für die Entwicklung der eigenen Identität. Doch schon in den 1980er Jahren kritisieren andere Forschende dieses Modell als zu starr. Wie es sich auswirkt, wenn man sich an gesellschaftliche Entwicklungen versucht, anzupassen, würden zu wenig berücksichtigt. Giddens, der weltweit und über die Grenzen der Soziologie hinaus bekannt wurde und sich auch mit Globalisierung, Demokratie usw. beschäftigt hat (so setzte er sich als Politikberater seinerzeit gemeinsam mit Tony Blair für den sogenannten Dritten Weg ein, einer Verbindung der besten Aspekte von Sozialismus und Kapitalismus), öffnet den Identitätsbegriff. So spricht er von entwicklungsmäßiger Verlaufskurve, bezieht die jeweilige Lebensspanne ein und stellt fest, dass man sich kontinuierlich mit seiner Lebenserzählung beschäftigen muss. (www.spektrum.de/lexikon/psychologie/identitaet/6968).
Eric Lippmann, Psychologe an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, meint sogar, dass wir mehrere Identitäten bzw. ein inneres Team in uns hätten. Würde man das Umfeld einer Person nach deren Identität befragen, erhielte man ganz verschiedene Antworten. Eric Lippmann hat sich aufgrund des stark gestiegenen Interesses an Selbstfindung näher mit diesem Thema auseinandergesetzt. Für Jürgen Straub, Psychologe, Sozialwissenschaftler und Inhaber des Lehrstuhls für Sozialtheorie und Sozialpsychologie an der Ruhr-Universität Bochum, sind dies jedoch nicht verschiedene Identitäten, sondern lediglich verschiedene Rollen. Je nach Kontext seien wir eben Arbeitnehmer:in, Elternteil, Kind, Partner:in, Freund:in usw. Auch widersprüchliche Rollen gehörten dazu. Das sei jedoch nicht von Nachteil. Im Gegenteil: die Sozialpsychologie wertet eine hohe Selbstkomplexität als Vorteil. Man kann dann je nach Anforderung umso flexibler reagieren und findet entsprechende Ressourcen in sich (www.spektrum.de/news/haben-wir-mehr-als-nur-eine-identitaet/2100087).
Mehr Freiheit, mehr Verantwortung
Es ist uns Menschen noch nie so gut gegangen wie heute. Zugleich haben wir heute ein komplexeres Leben. Lebensentwürfe müssen und dürfen selbst gesucht werden. Und sie wechseln im Laufe des Lebens. Einschnitte durch Trennungen, Umzüge, Jobverluste, Krankheiten erfordern Neuausrichtungen. Somit haben wir mehr Freiheit, aber auch mehr Verantwortung für uns selbst. Das Großartige ist, dass man vieles selbst beeinflussen und bestimmen kann. Du kannst deine persönliche (Weiter-)entwicklung enorm fördern, wenn du die Dinge nicht dem Zufall überlässt, sondern aktiv wirst. Wenn du selbst bestimmst, wie dein Leben weitergehen soll. Natürlich kommen immer wieder von außen Dinge auf uns zu, das ist ja auch das Spannende am Leben.
Aber es macht einen Unterschied, ob wir nur immer reagieren auf Impulse von außen oder ob wir eine bestimmte Richtung, selbst gesetzte Ziele im Leben verfolgen. Ich versuche seit jeher, beides zu verbinden. Meine eigenen Ziele und Wünsche zu verfolgen und auf diesem Weg gleichzeitig offen dafür zu sein, was das Leben mir anbietet. Oft lässt sich meine Reaktion auf Dinge von außen mit dem eigenen längerfristigen Ziel verbinden. Einfach gesagt: Wir müssen zwischen Geld, Klima und Gesundheit so gut wie möglich unser eigenes Ding machen. Am besten so, dass eigener Nutzen und gesellschaftlicher Nutzen zusammenkommen. Auch dafür haben wir Verantwortung.
Wir leben immer länger
Die realen Vorgänge alter Menschen, des Alters allgemein, haben sich grundlegend geändert. „Bei uns werden demnächst zwei Drittel über 60 Jahre alt sein“, sagte die Altersforscherin und Autorin Herrad Schenk in einem Radiobeitrag des Bayerischen Rundfunks in BR2-Radio am 15. März ab 9.05 Uhr (https://www.br.de/radio/bayern2/service/manuskripte/radiowissen/manuskript-radiowissen-aelteste-wiederentdeckung-soziale-institution-100.html). Die Zahl der 90-Jährigen habe sich seit 1950 verzwanzigfacht. 100-jährig zu sein gewänne in Zukunft an Normalität. All dies sei etwas Einmaliges in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die medizinische Forschung bestätigt außerdem, dass sich die Menschen heute 10 bis 15 Jahre jünger fühlen als die Generation unserer Eltern und Großeltern. Das liegt an besserer Ernährung, besserer Gesundheitsversorgung und auch am anderen, aktiveren Lebensstil und Einstellungen. Mittlerweile spricht die Altersforschung von der längsten Lebensspanne überhaupt. „Da müssen völlig neue Lebensbaupläne gestrickt werden“, so Herrad Schenk. Auch in dieser nunmehr immer längeren Lebensphase gibt es keine festgelegten Rollenzuschreibungen mehr. Die dürfen wir uns selbst suchen. Das mag teilweise anstrengend sein, vielmehr aber bedeutet es Freiheit, wie du dein Leben gestalten willst: ob du in der Stadt, auf dem Land oder einem ganz neuen Ort leben, ob du allein, mit einem oder zwei Partner:innen, einer Wohngemeinschaft, in einem Bauernhaus oder einer Loftwohnung leben, welchen Beruf du ausüben, das vielleicht mit einem Ehrenamt kombinieren möchtest… Hauptsache, du gibst dir die Erlaubnis, das entscheiden zu dürfen. Wenn nicht jetzt, weil du vielleicht gerade Care-Arbeit leistest, für Kinder verantwortlich bist oder dich um ein Elternteil kümmerst, dann später. Aber auch hier gibt es oft mehrere Möglichkeiten.
Vielleicht merkst du es auch an dir selbst oder im Bekanntenkreis: ich kenne eine 70-jährige Frau, die äußerst attraktiv ist und einen über 20 Jahre jüngeren, ebenfalls sehr attraktiven Lover hat. 80-jährige Frauen berichten von teilweise mehreren Freundschaft+-Partnern. Geht man heute in einen Club zum Tanzen, wird der Anteil der reifen bis sehr reifen tanzbegeisterten Menschen immer größer. Beim Skifahren, Bergwandern, im Fitnessstudio stecken uns trainierte 75-Jährige/80-Jährige teilweise in die Tasche. Ich finde das fantastisch! Hier passieren grundlegende Umwälzungen, die eine viel längere Perspektive für dich und für mich öffnen, länger gesund, erfüllt, attraktiv leben zu können. Warum also die kostbare Lebenszeit mit einem Leben verschwenden, in dem du nicht glücklich bist, die Bedingungen einfach nicht passen, es dir nicht gut geht. Darum: es ist nie zu spät, etwas Neues zu beginnen. Und sich ein neues Leben zu erschreiben, zu gestalten. Die Beispiele gerade auch von hochaltrigen Menschen, die einen TikTok-Kanal bespielen, mit ihrem Positivbeispiel des Tanzens oder des attraktiven Stylings auf Instagram inspirieren oder sogar sportliche Höchstleistungen vollführen, werden immer mehr. So hatte die Schwedin Dagny Carlsson im Alter von 100 Jahren noch mit dem Bloggen begonnen (https://borncity.com/senioren/2022/03/27/schwedische-bloggerin-dagny-carlsson-verstirbt-mit-109-jahren/).
Bist du in der falschen Story?
„Es ist ganz normal, dass wir manchmal in der falschen Story leben“, sagt Rebecca Vogels, Expertin für Storytelling. In ihrem sehr lesenswerten Buch „Erzähl dein Leben neu“ zeigt sie auf, wie wir die Methode des Storytellings für uns anwenden können. So rät sie beispielsweise, sich ein Mission Statement für uns selbst zu schreiben, in dem wir die Fragen beantworten und formulieren, wie wir durchs Leben gehen wollen, was die große Frage, das Thema der eigenen Lebensgeschichte ist. Was ist dir wichtig, wo willst du hin, welche Veränderung willst du anstoßen? Ich füge an, was ist dein Auftrag? Aus der Familiengeschichte, die unsere eigene Biografie mitbestimmt, entsteht oft eine Art Auftrag, der nicht unbedingt offenkundig ist, sondern sich unterschwellig ergibt. Oft hängt er mit Verlusten der vorherigen Generation(en) zusammen. Da gibt es beispielsweise den Mann, der selbst eine Million verdienen und dies auch anderen beibringen möchte, weil er einem Familienmitglied ein besseres Leben ermöglichen möchte. Da gibt es den ehemaligen Rechtsradikalen, der nach seinem Ausstieg viel dafür tut, andere Jugendliche aufzuklären. Bei mir ist es ein Familienmitglied meiner Vorfahren, das kaum ein eigenes, gelungenes, schönes Leben gelebt hat, weshalb ich mir geschworen habe, ein sinnerfülltes, schönes Leben in Fülle zu leben. Und genau das ist mein starkes Warum, weshalb ich dir und anderen Menschen, vor allem Frauen, darin bestärken will, ein selbstbestimmtes, erfülltes Leben für sich zu gestalten.
Zusammenfassung:
- Identität ist nicht mehr festgefügt oder mit 20 „fertig“. Sie verändert sich mit den Lebensbedingungen und Anforderungen. Du kannst sie mitgestalten. Eine hohe Selbstkomplexität ist von Vorteil.
- Verfolge deine eigenen Ziele mit einem langfristigen Fokus. Integriere die Dinge, die dir das Leben am Wegesrand bietet, passe sie aber so ein, dass es etwa deinen langfristigen Zielen dient oder aber sie nicht aus den Augen verlierst. Am besten ist es, wenn deine eigenen Ziele auch dem Gemeinwohl dienen.
- Wir leben immer länger; und zwar sehr viel gesünder als frühere Generationen. Das Alter ist die längste Lebensspanne. Du kannst also immer wieder neu anfangen.
- Schreibe dir ein Mission Statement: Wie willst du leben? Was ist dein Thema? Dein Warum? Was ist dir wichtig? Wo willst du hin? Mehr dazu findest du in diesem Blogbeitrag.
Was ist dein starkes Warum? Wie möchtest du leben? Schreibe dir dein Leben neu! Es ist Zeit, mir eine neue Geschichte zu erzählen: Ich bin von nun an sportlich! Wie geht deine neue Geschichte deines Lebens?
Deine Susanne
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